Pyramiden: Und Lenin wacht noch immer über die Stadt

Reisezeit: 09.08.2017


Es ist 6 Uhr morgens.

Draußen ist es schon hell.

Genau genommen ist es hier auf Spitzbergen dank des Polartags seit mehr als drei Monaten hell – ohne Unterbrechung, eine sehr obskure Vorstellung.

Ich setze mich vor die Tür der Airbnb-WG und warte auf meinen Bus zum Hafen, aber nicht alleine, denn meine "Nachbarn" grasen unbeirrt rund 6 Meter neben mir und lassen sich nicht stören.

"Sie laufen am Tag weniger als einen Kilometer, um Energie zu sparen" erzählt mir ein Wanderführer, der vor dem benachbarten Café sitzt und auf seine Gäste wartet.

Endlich kommt der Bus und so fahren wir zunächst jede Unterkunft in Longyearbyen an, bevor es gen Hafen geht. Dort angekommen legt unser Boot, die MS Polargirl, nach einem kurzen Sicherheitsbriefing ab, denn unser Ziel liegt nicht gerade vor der Haustür.

Entlang des schier endlosen Isfjorden mit seinen durch das Eis geformten Bergen und hinein in seinen Seitenarm, den Billefojrden, fahren wir nun für knapp 4 Stunden, bis unser Ziel in Sicht kommt:  Die russische Geisterstadt Pyramiden.

 

Gegenüber des Nordenskiöld-Gletschers gelegen und besagte vier Bootsstunden von der Hauptstadt Spitzbergens, Longyearbyen, entfernt, stellt die Stadt einen der wohl abgelegensten arktischen Orte dieser Welt dar.

Ob es nun um die nördlichste (sowjetische) Geisterstadt der Welt geht, oder den nördlichsten Konzertflügel (auf dessen Überresten ich eine Stunde später spielen darf):

Das Extrem des nördlichsten findet sich hier doch außerordentlich häufig: Das nördlichste beheizbare Schwimmbad, das nördlichste Theater, die nördlichste Lenin-Statue und so weiter und so fort...


Doch diese Extreme haben eben einen kleinen, aber omnipräsenten Haken: Pyramiden ist seit 1998 praktisch unbewohnt. Nach einem Flugzeugunglück 1996, bei dem jeder zehnte Bewohner der bis dahin 1000 Einwohner "großen" Stadt ums Leben kam (und als Spätfolge des Zerfalls der Sowjetunion), entschied die russische Regierung die Stadt aufzugeben, sodass heute nur noch eine Handvoll Einwohner Pyramiden instand halten.

Bis dahin galt Pyramiden als Musterexperiment einer sozialistischen und kommunistischen Stadt, die nahezu autark Bestand haben sollte.

 

Noch letzte Woche wurde eine Besuchergruppe von einem Eisbären überrascht, für uns wäre eine solche Begegnung sicherlich ein Ereignis, für die Tourguides hingegen ist es absoluter Alltag und so werden wir von unserem Bootsguide Iakov mit Gewehr und Victoria mit Signalpistole begleitet. Victoria ist unsere Führerin durch Pyramiden, sie lebt in der kurzen Sommersaison in Pyramiden und verbringt den Rest des Jahres in Moskau.

Sie erzählt uns von der Bergbaugeschichte der Stadt und erklärt, wie Pyramiden als sozialistische Musterstadt funktionierte: Die Einwohner konnten praktisch kein Geld ausgeben, da sowohl das Essen in der Kantine der Stadt, sowie Unterkunft und Kulturangebote kostenlos waren. Die Stadt hatte, trotz ihrer Lage, alles, was zum Leben notwendig war:

Schule, Krankenhaus, Sporthallen, Theater, Musikräume... und da sich die wenigsten sowjetischen Künstler dorthin verirrten, wurde das Kulturprogramm selbst erstellt: Mit Ende der Minenschicht stellten die Bewohner sich auf die Theaterbühne und übten Stücke ein, gründeten sogar eine stadteigene Jazzband im amerikanischen Stil und veranstalteten wochenends Sportturniere gegen die Vereine der 6 Stunden entfernten Minenstadt Barentsburg.


Beim Spaziergang durch die Stadt, vorbei an der Büste Lenins, welche auch heute noch über die Stadt hin zum Gletscher blickt, dürfen wir auch die Stadthalle und Kantine betreten und selbstständig die Räume durchforsten, Bärengefahr besteht im Haus zum Glück keine!

Es scheint schon seltsam, dass ein einfaches leeres Theater eine solche Faszination ausstrahlen kann, oder wir vor einer leeren Baracke stehen und mehrere hundert Möwen fotografieren, die die Fensterrahmen des ehemaligen Wohnhauses zur ihrer ganz eigenen Stadt gemacht haben... 

...doch gerade dieser simple Alltag, der noch vor 20 Jahren hier gelebt wurde und jetzt so unvorstellbar wirkt, ist es, was die Faszination Pyramiden für mich ausmacht.

Nach einem Besuch beim Postamt (Victoria übernimmt auch gleich die Funktion der Postangestellten, die Reisepässe stempelt) geht es in das im Nachbarraum gelegene Restaurant.       

Beim obligatorischen russischen Wodka und Marxs Kapital  (nicht, dass ich russisch sprechen, oder gar lesen könnte) lasse ich das Erlebte ein erstes Mal Revue passieren, bis unser Bootsguide uns zurück zum Schiff bringt... 

Mit dem Ablegen der MS Polargirl kehrt in Pyramiden wieder Stille ein ... und irgendwo ruft ein einsamer Schal nach seinem Besitzer, der mittlerweile bei einem Wal-Gulasch (lecker!) auf dem Außendeck des Schiffes sitzt und ein letztes Mal auf die Geisterstadt und (wenn auch zu diesem Zeitpunkt unwissentlich) seinen Schal zurückblickt...

 

So long,...

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